Der kleine Ángel war dreieinhalb Jahre alt, als ihn seine Mutter zur Physiotherapie brachte. Er war von Geburt an blind und konnte nicht laufen. Er saß die meiste Zeit auf dem Arm seiner Mutter oder auf dem Boden und konnte kaum mit seiner Umwelt kommunizieren. Das einzige, womit der sich beschäftigte, war sein kleines Spielzeugauto. Als er dann in der Therapie von Rudolf, der 2011 als freiwilliger Physiotherapeut dort war, das erste Mal auf die Beine gestellt wurde, gab es großes Geschrei. Ángel hatte Angst, ließ sich immer wieder fallen und war kaum auf seinen Füßen zu halten. Doch es war die Mühe wert – nach einiger Zeit konnte er bereits stehen. Seine Mutter übte auch Zuhause weiter, sodass sich Ángel jeden Tag ein bisschen mehr an die neue Haltung und Position gewöhnen konnte.


Nach einigen Wochen wurde dann mit langsamen Gehübungen am Gehbarren begonnen. Ángel konnte sich mit zwei Händen festhalten, Rudolf half ihm seine Füße und Hände am Barren nach vorne zu setzen, Schritt für Schritt, und Ángels Mutter begleitete die Therapie stets in greifbarer Nähe. Wieder musste Ángel viel weinen, er kannte schließlich aus seinen ersten vier Lebensjahren nur eine sitzende Haltung. Doch diesmal ging es schneller und Ángel fasste schnell Vertrauen. Nach wenigen Wochen ging er eigenständig den Gehbarren entlang, an dessen Ende stets die offenen Arme seiner Mutter warteten, um ihn lobend zu umarmen. Im nächsten Schritt ging es darum, Ángel beizubringen, mit seinen Füßen nach dem Untergrund zu tasten. Zu Beginn war der Boden immer eben, doch nach einiger Zeit begann man ihm in der Therapie Hindernisse in den Weg zu legen und seine Füße beim Tasten zu führen. Ángel lernte hier schnell mit seinen Füßen zu spüren, ob der nächste Schritt sicher ist.
Unsere ersten freiwilligen PhysiotherapeutInnen Anna und Timo arbeiteten ebenfalls regelmäßig mit Ángel, um ihm zunehmend mehr Sicherheit auf den eigenen Füßen zu geben. Mit etwas Unterstützung lief er unermüdlich mit einer Gehhilfe den Gang des Therapiezentrums auf und ab. 2013 schickte uns Anna ein Foto, dass Ángel zeigt wie er an der Hand seiner Mutter über den Markt läuft – und das obwohl die Märkte in Nicaragua immer sehr unübersichtlich und voller Hindernisse sind!


Zwei Jahre später, im Jahr 2015, trafen Rudolf und Fabian ihn zufällig bei einem Besuch in Nicaragua in der Sonderschule von León wieder, wo er in einer Gruppe anderer SchülerInnen saß. Offenbar hatte er Vertrauen in sich und seine Umgebung gewonnen und kann nun anderen Personen offen gegenüber stehen.
Heute ist Ángel 12 Jahre alt, kann selbstständig laufen, besucht weiterhin die Sonderschule und seine Familie engagiert sich immer noch sehr bei Los Pipitos. Gerade konzentriert Ángel sich darauf, den Umgang mit dem Blindenstock zu erlernen, um noch selbstständiger sein zu können.


Auch in der Schule nimmt er an verschiedenen Aktivitäten teil: er macht Kunst, singt, spielt Gitarre und seit kurzem auch Keyboard. Carla, die Leiterin von Los Pipitos León, erzählt uns stolz, dass er ihr zum Geburtstag ein Video geschickt hat, auf dem er für sie ein Ständchen singt und dabei Gitarre spielt. Er hat sogar regelmäßig Auftritte in verschiedenen Einrichtungen wie dem Gesundheitsministerium, dem Rathaus, dem Kultusministerium und auch bei Los Pipitos.


Und trotz all dieser Fortschritte gibt es Anlass zur Sorge um die Familie: Ángels Vater hat eine schwere Lebererkrankung und seine Mutter musste aufgrund der Covid19-Pandemie ihren kleinen Lebensmittelstand schließen, sodass die Familie derzeit ohne Einkommen dasteht und dabei braucht Ángel Medikamente. Vorübergehend kann die Unterstützung seines großen Bruders und der Großmutter die prekäre Situation abfedern, doch wer weiß wie lange noch. Unterstütze uns mit einer Spende , sodass wir auch Ángels Familie in dieser schweren Zeit helfen können und Ángel weiter seinen Weg gehen kann.